Die Gründung des Staates Singapur vor fünfzig Jahren war für seine Bewohner kein Grund zum Feiern. Lee Kuan Yew, unter dem Singapur in den folgenden Jahrzehnten eine erstaunliche Aufstiegsgeschichte schreiben sollte, hatte in einer Föderation mit dem malaysischen Nachbarn die einzige Überlebenschance für den rohstoffarmen Stadtstaat gesehen. Eine Pressekonferenz, die er am 9. August 1965 aus Anlass der Abspaltung Singapurs von Malaysia nur zwei Jahre nach dem Zusammenschluss gab, musste er vorübergehend unterbrechen. Den für seine Härte in der politischen Auseinandersetzung bekannten früheren Anwalt hatten seine Gefühle übermannt.
Kishore Mahbubani, der Dekan der elitären Lee Kuan Yew School of Public Policy und der bekannteste politische Denker Singapurs, erinnert sich an einen Tag „der Dunkelheit und der Schwermut“. Er war gerade 17 Jahre alt, im Radio lief die von Lee Kuan Yew verfasste Bekanntmachung der Trennung von der malaysischen Föderation. „Es gab keine Aufregung, keine Freude, keine Feierlichkeiten“, erinnert sich der frühere UN-Botschafter Singapurs, der vor allem für seine Verteidigung „asiatischer Werte“ und seine Kritik an der „Überheblichkeit“ des Westens bekannt ist. „Alle dachten, damit wäre Singapur erledigt“, sagt Mahbubani.
Der Politikwissenschaftler sitzt in seinem Büro vor einer Fensterbank mit Fotos, die ihn bei Begegnungen mit internationalen Größen wie dem damaligen amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan und dem früheren UN-Generalsekretär Kofi Annan zeigen. Mahbubani erinnert sich an eine Zeit, als Singapur noch „ein typisches Entwicklungsland der Dritten Welt“ gewesen sei. Auch er stammt aus einfachen Verhältnissen, seine Familie lebte in einer armen Nachbarschaft in einer Einzimmerwohnung. Auf den Straßen lieferten sich die verschiedenen Ethnien Straßenschlachten, erzählt der frühere Diplomat. Ein malaiischer Nachbar sei so verprügelt worden, dass ihm das Blut vom Kopf auf das Hemd tropfte.
Der ethnische Unfrieden war auch ein Grund, warum die Föderation mit Malaysia auseinanderbrach. Während dort die Malaien in der Überzahl sind, setzt sich die Bevölkerung Singapurs zu 74 Prozent aus Chinesen, zu 13 Prozent aus Malaien und zu acht Prozent aus Indern und Angehörigen anderer Ethnien zusammen. Doch für Singapurs Gründervater Lee Kuan Yew waren die ethnischen Fragen nur ein Problem von vielen, die er zu lösen hatte. Singapur galt für sich genommen als nicht überlebensfähig. „Wir erbten die Insel ohne ihr Hinterland, ein Herz ohne Körper“, schrieb Lee Kuan Yew im zweiten Band seiner Memoiren „From Third World To First“. Singapur hatte keine eigene Armee und eine Wirtschaft, die bisher vom Austausch mit den anderen Gebieten des früheren British-Malaya abhängig war. Selbst für seine Wasserversorgung war Singapur auf Malaysia angewiesen.
Immer wieder grüne Inseln
Seitdem hat sich viel verändert. Auf den meisten Landkarten ist Singapur zwar immer noch nicht mehr als „ein kleiner roter Punkt“. Doch der ursprünglich abfällig gemeinte Begriff wird in dem Stadtstaat heute mit Stolz und Selbstironie getragen. Singapur hat sich unter Lee Kuan Yew, der diesen März im Alter von 91 Jahren gestorben ist, zu einer globalen Finanz- und Wirtschaftsmetropole entwickelt. Der Hafen ist der zweitgrößte der Welt. Singapur hat das siebthöchste Bruttoinlandseinkommen und den höchsten Anteil der Millionäre an der Gesamtbevölkerung. Die nationale Fluggesellschaft Singapore Airlines und der Flughafen Changi sammeln Preise. Die Armee ist ähnlich schlagkräftig wie die Streitkräfte der um ein vielfaches größeren Länder Indonesien und Thailand. Anders als in vielen Nachbarländern wird Korruption gnadenlos verfolgt. Singapur steht bei dem Korruptionsindex von Transparency International an siebter Stelle der „ehrlichsten Staaten“.
Oase der Ordnung
Die Errungenschaften Singapurs spiegeln sich in der Skyline, auf die etwa die Gäste aus dem berühmten Infinity-Pool des 280 Meter hohen Marina Bay Sands hinunterblicken, dem Hotel- und Casinokomplex, der zum inoffiziellen Wahrzeichen Singapurs avanciert ist. Hinter den Bankentürmen des Geschäftsviertels erstrecken sich im Hintergrund die Wohnblöcke, in denen die meisten Singapurer leben. Dazwischen finden sich immer wieder grüne Inseln: der Botanische Garten, dem die Unesco vor kurzem den Weltkulturerbestatus verlieh, die Parks, Reservate und Dschungelgebiete im Umfeld der Wasserschutzgebiete. Auf der anderen, dem Meer zugewandten Seite, stauen sich die Tanker- und Containerschiffe in der Straße von Malakka.
Laut Kishore Mahbubani basiert der Erfolg Singapurs auf drei Prinzipien: Meritokratie, also der Herrschaft der Leistungsfähigen, Pragmatismus und Ehrlichkeit. Singapur ist eine Oase der Ordnung in dem ansonsten chaotischen Asien: effizient, diszipliniert, sauber. Die Kriminalitätsrate ist eine der niedrigsten der Welt. In den U-Bahnen hängen Schilder, auf denen mit empfindlichen Strafen gedroht wird: Rauchen kostet 1000 Dollar, Essen und Trinken werden mit 500 Dollar Strafe geahndet, die Mitführung von brennbaren Flüssigkeiten und Gas mit 5000 Dollar. „Singapore is a fine city“, lautet ein Spruch, der aufgrund seiner Doppeldeutigkeit beliebt ist. Denn „fine“ lässt sich nicht nur als „schön, ausgezeichnet, fein“ übersetzen. Es ist auch das englische Wort für Geldbuße.
Beschwörung „asiatischer Werte“
In Deutschland hat sich die Strenge des singapurischen „Nanny State“ spätestens seit der Einführung eines Kaugummiverbots im Jahr 1992 herumgesprochen. „Wir sehen keinen Grund, warum wir uns mit Kaugummiresten herumplagen sollten“, sagt Kishore Mahbubani. Heute darf Kaugummi in Singapur immerhin zu „medizinischen“ Zwecken verkauft werden.
Fast ebenso bekannt wie das Kaugummiverbot ist die Anwendung der Prügelstrafe. Singapurs Richter verhängen sie selbst bei kleineren Vergehen wie Vandalismus. Im Mai hatten zwei Deutsche aus Leipzig jeweils drei Schläge mit dem Rohrstock auf den nackten Hintern bekommen. Die beiden Graffiti-Sprayer hatten einen U-Bahn-Wagen in einem Depot besprüht. Man lege eben Wert darauf, dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich behandelt würden, sagt Mahbubani. Die Prügelstrafe stamme allerdings noch aus der britischen Kolonialzeit. Damals hätten vor allem die Menschen asiatischer Herkunft den Rohrstock zu spüren bekommen.
Und so ist heute auch so etwas wie Genugtuung in Singapur darüber zu fühlen, dass es gelungen ist, die Schmach der Fremdherrschaft aus eigener Kraft überwunden zu haben. Statt einer Kolonie des Westens ist Singapur heute eine Erfolgsgeschichte in eigenem Recht. Wie Japan und die anderen südostasiatischen sogenannten Tigerstaaten ist Singapur der Gegenbeweis für die These, dass die Asiaten zur ewigen Rückständigkeit verdammt seien.
Die Beschwörung „asiatischer Werte“ ist deshalb auch so etwas wie eine Trotzreaktion, wie Kishore Mahbubani zugibt. „Wissen Sie, am Ende des Kalten Kriegs gab es so ein Triumphgefühl im Westen“, sagt Mahbubani. Anfang der neunziger Jahre schien das Ende der Geschichte gekommen. Es sah es so aus, als hätte das System westlicher Demokratie gesiegt. „Es war eine Antwort auf diese arrogante Annahme des Westens, dass die Asiaten sagten: Vielleicht werden wir nicht wie ihr“, sagt Mahbubani.
Doch die Berufung auf „asiatische Werte“ war für Lee Kuan Yew und andere Autokraten in der Region auch eine Strategie, um westliche Kritik an ihrem Führungssystem abzuwehren. Sie besagt, dass in asiatischen Gesellschaften der Pflicht des Einzelnen gegenüber der Gemeinschaft mehr Bedeutung zugemessen werde als den Freiheiten des Individuums. Das Resultat war ein politisches System, das von manchen als „Klimaanlagen-Diktatur“ verspottet wurde: ein autoritärer Führungsstil, der durch wirtschaftlichen Aufschwung legitimiert wird – repräsentiert durch die stets bis zum Anschlag heruntergekühlten Einkaufszentren, Kinos und Restaurants.
Oppositionspolitiker wurden mit Diffamierungsklagen in den Ruin getrieben. „Sicher, als Premierminister war er sehr hart zur Opposition“, sagt Mahbubani über Lee. Die Presse wurde von der Regierung kontrolliert, sogenannte OB-Marker („Out of bounds“ – „außerhalb der Abgrenzungen“) steckten die Grenzen des politischen Diskurses ab.
Welle der Trauer zum goldenen Jubiläum
Doch auch die Singapurer Bevölkerung legt Wert auf Disziplin, harte Arbeit und konfuzianische Familientugenden. Der Stadtstaat praktiziert eine besondere Form des Kapitalismus mit teilweise sozialistischem Anstrich. Der Wohlfahrtsstaat europäischer Prägung war Lee Kuan Yew zwar ein Graus. Dennoch sorgte er dafür, dass jeder Singapurer Anrecht auf staatlich geförderten Wohnraum bekam. Auch die Regierung, die seit elf Jahren von Lee Hsien Loong, dem ältesten Sohn Lee Kuan Yews, angeführt wird, lässt sich nur schwer in die üblichen politischen Kategorien von links und rechts einordnen.
Viele sind der regierenden People’s Action Party dankbar, dass sie aus ihrem kleinen Land einen modernen Staat gemacht hat. Der Tod von Lee Kuan Yew im Jahr des goldenen Jubiläums hatte eine Welle der Trauer ausgelöst. In sengender Hitze und strömendem Regen standen die Menschen Schlange, um dem strengen Gründervater die letzte Ehre zu erweisen.
Singapurer sind unglücklicher
Für viele fühlte es sich an wie das Ende einer Ära. Zum fünfzigsten Jubiläum ist der Gemütszustand vieler Singapurer denn auch nicht sehr euphorisch. Sie beschweren sich über die hohen Lebenshaltungskosten, den schier unbezahlbaren Wohnraum und die steigende Einwanderung. Viele Statistiken belegen das subjektive Gefühl: Die Singapurer arbeiten mehr Wochenstunden, bekommen weniger Kinder und sind generell unglücklicher als die Menschen in den anderen Industriestaaten.
Dennoch hängen schon seit Tagen die Nationalflaggen an den Balkonen. Wochenlang wurde an den Choreographien und Paraden für die öffentlichen Jubiläumsfeierlichkeiten gefeilt. Die Feuerwerke wurden getestet, und die Kampfflugzeuge der Luftwaffe probten ihre Formationsflüge. In einem der Theater im Marina Bay Sands wird ein Musical aufgeführt, das den Weg zur Gründung des Stadtstaats an der Person Lee Kuan Yews nacherzählt. Es beginnt und endet mit der Enttäuschung Lee Kuan Yews über die Abspaltung Singapurs von Malaysia. Ganz zum Schluss singt aber ein Chor voller Hoffnung die Nationalhymne. Sie heißt „Majulah Singapura“ – „Vorwärts, Singapur“.
Source: Vor 50 Jahren erklärte Singapur seine Unabhängigkeit